Mitgefühl

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Autisten sind nicht in der Lage, Mitgefühl gegenüber anderen zu empfinden.

Auch wenn man bei Erklärungen zu den häufigen Vorurteilen wohl irgendwann eine gewisse Routine entwickelt, gibt es einige weit verbreitete Ansichten, bei denen Erklärungen und Diskussionen niemals entspannt sein werden.
Dieser Satz und seine diversen Variationen ist eine davon.

Natürlich sind Autisten in der Lage, Mitgefühl zu empfinden.

Ich sehe zwei große Ursachen dafür, dass sich diese Ansicht so hartnäckig hält. Auf die erste Ursache brauche ich an dieser Stelle nicht detailliert einzugehen, da mir Mela in einem anderen Artikel zuvor kam.
Um es kurz zu fassen: Das Mitfühlen ist nicht das Problem. Das Problem ist es zu erkennen, dass es da etwas zum Mitfühlen gibt. Wenn man diesen Schritt gemacht hat, liegt der nächste Schritt darin, das Gefühl überhaupt zu erkennen, auf das reagiert werden soll.
Wenn ich diese beiden Schritte zu einem irgendwie befriedigenden Ergebnis gebracht habe, klappt das mit der Empathie meist recht gut. Das bedeutet aber in den meisten Fällen, dass ich mich bewusst damit beschäftigt habe. Außerdem brauche ich eine Erfahrung, die ich zumindest grob auf die andere Situation übertragen kann. Die Fälle, in denen ich nicht nachdenken muss, sind meist die Fälle, in denen ich das Geschilderte eins zu eins erlebt habe. Dann kann dazu auf Anhieb die passende Emotion abgerufen werden. Wenn ich auf der anderen Seite für eine Situation keine Grundlage hab, bin ich nicht in der Lage, mich in diesen Menschen hineinzuversetzen. In so einem Fall habe ich aus den diversen Jahren, die ich mich gezielt mit meinen Mitmenschen auseinandersetze, für viele Situationen theoretisches Wissen, wie diese sich in einer entsprechenden Situationen wohl fühlen, aufgebaut.
Eine weitere Sichtweise darauf, wie das Mitfühlen bei ihr funktioniert, beschreibt fotobus in ihrem Blogbeitrag, der sich ebenfalls mit diesem Phänomen befasst.

Ein anderes Problem, zu dem ich eher selten Informationen finde, das ich aber in diesem Kontext für wichtig halte, ist die Diskrepanz zwischen dem Empfinden eines Gefühls und dem Darstellen dieses Gefühls nach außen hin. Die Annahme, dass etwas nicht existiert, lediglich weil es nicht wahrgenommen wird, ist unter vielen Menschen weit verbreitet.

Es ist wohl mittlerweile recht weitflächig bekannt, dass die meisten Autisten nicht sonderlich gut darin sind, ihre Gefühle auszudrücken beziehungsweise in irgendeiner Form zu zeigen. Die meisten Menschen machen dies intuitiv. Wenn man diese Option nicht hat, wird schnell deutlich, dass das angemessene Zum-Ausdruck-Bringen von Mitgefühl ein komplexer Vorgang ist. Hierbei sind einige Dinge zu beachten. Zuerst einmal muss klar sein, was das Gegenüber für ein Problem gerade hat. Gerade wenn das Hineinversetzen nicht so gut klappt, beschränkt sich die Annahme oft darauf, dass es ein irgendwie geartetes (meist) negatives Gefühl ist. Diese Information reicht allein aber oftmals nicht aus. So erfordern Wut und Trauer zum Beispiel oft recht unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem entsprechenden Menschen. Gerade diese beiden Emotionen sind zum Beispiel oft nur sehr schwer zu unterscheiden.
Ein weiteres Problem ist es, einzuschätzen wie nahe man der entsprechenden Person steht, beziehungsweise, wie nahe einen die entsprechende Person wahrnimmt. Bei einer engen Freundin kann eine Umarmung durchaus angemessen sein. Wenn man jedoch nur mit einem flüchtigen Bekannten zu tun hat, den man zufällig traf und der die Chance nutzte sich auszuweinen, wäre eine Umarmung für die meisten Menschen vermutlich eher unangemessen bis unangenehm.
Überhaupt beinhalten viele Arten Mitgefühl auszudrücken eine Form von Körperkontakt. Dabei steigt das Maß des angemessenen Körperkontakts mit der emotionalen Nähe zur Person. Problematisch wird es, wenn man mit diesem ein Problem hat.
Die Alternative dazu wäre die Verwendung von Floskeln. Ich fand sie für ziemlich lange Zeit ziemlich nutzlos. Wann sie wie einzusetzen sind, ist nie sonderlich genau definiert gewesen, und wenn ich eine, für mich funktionierende, Definition fand, gab es trotzdem noch Menschen, die die Floskeln anders verwendeten. Daher hab ich sie so gut es ging gemieden. Mittlerweile bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sie bei einigen Menschen auch eine Möglichkeit sind Mitgefühl auszudrücken, wenn man keine eigenen Worte zur Verfügung hat. Trotzdem stehe ich immer wieder vor dem Problem, dass mir in einer Situation, in der mir die passenden Worte fehlen, auch nicht die passende Floskel einfällt.

Ich kann nachempfinden, warum sich die Behauptung der fehlenden Empathie so hartnäckig hält. Einfach weil die Menschen aus der Gewohnheit heraus davon ausgehen, etwas, das sie nicht sehen, sei nicht existent. Das hat nur sehr oft wenig mit der Realität zu tun. In Anbetracht der Überlegungen, die ich in das Nachempfinden von Mitmenschen stecke, ist der Vorwurf der fehlenden Empathie jedes Mal so etwas wie ein Schlag ins Gesicht.

11 thoughts on “Mitgefühl”

  1. kleinbea

    Dies war leider lange auch Ansicht der Ärzte. Was sich aber nun schon seit einiger Zeit wandelt. So spricht man nun von kognitiver und affektiver Empathie. Autisten sind eingeschränkt im einschätzen von mentalen Zuständen (kognitive Empathie) aber durchaus fähig zur affektiven Empathie wo man das Mitgefühl hinzuzählt. Gerade in Bereichen die ein Autist nachempfinden kann (z.B. kennen die meisten das Gefühl wenn man gemobbt wird) entwickeln Autisten durchaus ein starkes Mitgefühl. Insofern derjenige natürlich sagt, das er gemobbt wird 🙂

  2. mague

    Danke für den Beitrag. Er hat mir geholfen Zusammenhänge besser zu begreifen, die mir bisher bei meinem Sohn (17) nicht klar waren.

    Ich habe ihn schon oft als empathisch erlebt, aber ebenso oft nicht, nun verstehe ich besser, worin sich das eine vom anderen unterscheidet, bzw. dass es sehr auf die jeweilige Situation ankommt.

  3. Tas

    Mit solchen Erklärungsversuchen stoße ich immer wieder auf die Auffassung, dass es ja überhaupt kein „echtes“ Mitgefühl ist, wenn ich bewußt die korrekte Reaktion auswähle. Nur wer intuitiv agiert ohne beschreiben zu können, warum jetzt Umarmung oder Floskel oder Glückwunschkarte ist mitfühlend, alles andere ist doch nur Berechnung. Sagt zumindest meine Familie.

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  5. Fog

    Ich bin zwar in der Lage, Mitgefühl zu empfinden. Jedoch nur in speziellen Situationen, die ich nicht selbst auswähle.

    Bei den MEISTEN Vorkommnissen, die bei VIELEN Leuten Mitgefühl hervorrufen – Katastrophen, Schicksale, Hungersnöte, Unfälle usw. usw. – empfinde ich aber nichts. Der Unterschied zu fast allen Menschen, die ich kenne, ist gewaltig und eindeutig.

    Insofern ist das Vorurteil zwar eine verkürzte Formulierung (ich kann es ja!), die ich aber insgesamt auf mich zutreffend finde (ich kann es im Vergleich zu Neurotypischen viel, viel schlechter).

    Was mich an dem Satz eher stört, ist die implizite Behauptung, Mitgefühl zu empfinden/auszudrücken sei eine Fähigkeit. Genau so gut könnte man behaupten, es sei eine Fähigkeit, KEIN Mitgefühl zu empfinden.

    1. h4wkey3 Post Author

      @Fog: Ich bin mir grad nicht sicher, ob ich verstehe, was du meinst. Die Fähigkeit Mitgefühl zu empfinden, die oftmals abgesprochen wird, heißt nicht, dass man es in jeder Situation tun muss. In der von dir beschriebenen Situation bekomme ich auch kein Mitgefühl hin, weil die Dimension des Leids unvorstellbar für mich ist. Diese Erfahrung berichteten mir aber auch schon Nicht-Autisten, dass es ab einer gewissen Menge des Leids einfach einfach nen Punkt gibit an dem es auf keiner Ebene mehr zu erfassen ist.
      Was die Fähigkeit angeht, ich definiere Fähigkeit, als den Umstand in der Lage zu sein etwas bestimmtes zu tun. Vollkommen wertfrei und nicht spezifisch ob und wie es erlernt wurde. Daher sehe ich dabei dein Problem nicht.

  6. Mela

    Tas: Sag deiner Familie schöne Grüße; MitGEFÜHL kommt von Gefühl. Wichtig ist nur was du fühlst, nicht, was du nach aussen ausdrückst. Denn wie Mitgefühl korrekt ausgeübt wird, ist keineswegs naturgegeben sondern kulturell erlernt.

    Bei Asperger-Autisten klappt das Erlernen einfach nur nicht intuitiv und was in ihnen vorgeht können sie nicht so leicht nach aussen vermitteln.

    Wer glaubt, dass der Ausdruck nach Aussen über die Existenz eines Gefühls entscheidet, der kauft auch das Müsli danach, wie aufwendig die Packung designt ist. Und selbst wenn die bereits leer verkauft wird, schwärmt er über das leckere Müsli.

    Gefühl ist, was drinnen vor sich geht.

  7. Limopard

    Als ich vorhin eine Folge „Grisu, der kleine Drache“ sah, gab es eine Szene, in der der kleine Drache (der bekanntermaßen Feuerwehrmann werden will) feuerlöschend mehr Irritationen bei der Bevölkerung (dem Mob?) auslöste als in feuerspeiendem Zustand. Als ihm dann in der Aufregung doch eine Flamme entfuhr, war zwar die Stadt in Schutt und Asche gelegt, die Welt aber doch wieder „in Ordnung“. Denn feuerspeiende Drachen kennt man ja.

    Auf Autisten übertragen hieße das: So lange diese die Rolle des seelenlosen Computers mit Tagebuchfunktion, Kalenderrechnung und ähnlichen Kabinettstückchen erfüllen, wäre alles in Ordnung. Sofern dann Gefühle ins Spiel kommen, wird es für den Außenstehenden wohl gefährlich – das kennt er nämlich so von Autisten nicht. Dann kommt es zu solchen Reaktionen, wie sie tas weiter oben schildert.

    Eigentlich armselig, dass in weiten Teilen der Menschheit eine Engstirnigkeit vorherrscht, die zum beidäugigen Blick durch ein Schlüsselloch befähigen würde. Es ist immer wieder ernüchternd, wie wenig Effekt Aufklärungsbemühungen (wie dieser Blog) wohl zu haben scheinen.

  8. Pingback: Verstanden werden « innerwelt

  9. Rosa

    Ein sehr interessanter Artikel. Danke für diesen faszinierenden Einblick.
    @Tas und Mela Ich habe mir schon oft über diesen Aspekt der kulturell erlernten Verhaltensweisen Gedanken gemacht. Ich bin selbst keine Autistin befasse mich aber gerne mit den Facetten der Wahrnehmung (meiner eigenen und der von anderen). Bei mir tritt oft das Gegenteil von dem auf was hier beschrieben wurde. Automatisch falle ich in die „angemessenen“ Verhaltensweisen (Floskeln, Gesichtsausdruck, Tonlage, Körperkontakt…) aber wenn ich in mich hineinhorche ist da eigentlich gar kein Gefühl. Meiner Meinung nach übernehmen diese intuitiv erlernten Verhaltensweisen einfach die Kontrolle. Und da ein Reflex schneller ist als eine durchdachte Handlung, findet die Introspektion erst statt nachdem ich mich schon „korrekt“ verhalten habe. Persönlich könnte ich mir vorstellen, dass dies, bei denjenigen die dieses Verhalten intuitiv erlernt haben, öfters vorkommt. Nach diesen Überlegungen wäre das erwähnte Vorurteil also nicht logisch. Wenn man unbedingt ein Vorurteil haben wollte, müsste man es wohl eher umgekehrt formulieren.

  10. Pingback: Froschs Blog: » Autismus und Empathie

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